Das Râmâyana von Samhita Arni und Moyna Chitrakar

Das Râmâyana, das dem Weisen Vâlmiki zugeschrieben wird, ist eines der beiden großen Epen der religiösen und literarischen Tradition der brahmanischen Welt, das andere Epos ist das Mahâbhârata. Rama, der das vollkommene Königtum verkörpert, gilt als einer der Avatare des Gottes Vishnu. Seine Frau Sitâ wurde von einem Dämon entführt, und nach heftigen Kämpfen gelang es Rama, sie zu befreien. Nach seinem Sieg hatte es Rama, entgegen aller Erwartungen nicht eilig, sie wiederzusehen. Es war weniger, um sie zu erlösen, dass er eine Schlacht geliefert hatte, als um die Beleidigung, die er erlitten hatte, zu rächen! Ihre Unschuld in Frage stellend, wies er sie zurück: "Dich zu sehen, beleidigt mich. Wie könnte ich dich zurücknehmen? Geh wohin du willst" und so folgt die Geschichte ihren Lauf.

Obwohl dieser Text in den Augen der Hindus heilig ist, können Samhita Arni und Moyna Chitrakar diese Ansicht nicht ertragen, ihre Sichtweise ist die von Frauen, die Gewalt und männliche Unterdrückung ablehnen. Gemeinsam haben sie ein "anderes" Râmâyana einer erstaunlichen Modernität, die oft als feministisch bezeichnet wird, neu geschrieben und illustriert. Die skandalisierten Hindu-Fundamentalisten bezeichnen es als ein Sakrileg!

Sitâ erzählt von ihrem Leben, von den Demütigungen und Nöten, die sie ertragen musste, aber sie stellt sich ihnen, sie behauptet sich. Sie ist sich bewusst, dass sie nicht die Einzige ist, die leidet, und so berichtet sie von den Klagen anderer Frauen, die ihre Ehemänner und Kinder im Krieg verloren haben... Es spielt keine Rolle, welcher Seite sie angehören.

Es waren Moynas Bilder, die Samhita beim Schreiben der Dialoge leiteten; sie wollte der Vision der bengalischen Künstlerin treu bleiben, die auch den Stil der "patua"-Maler und -Geschichtenerzähler beherrscht. Wir wissen, dass diese ihre aufgerollten Bilder vor den Augen der Zuschauer vorführen, während ihre Lieder die dargestellten Ereignisse erzählen und kommentieren. Doch nicht in dieser Form entdeckt der Leser den "Ramayana de Sita", sondern in Form einer Graphic Novel, die einem Künstlerbuch ähnelt, das zwischen einem Album und einem Comicbuch schwankt. Ein einzigartiges Werk, das von der erstaunlichen Kreativität des Verlags Tara zeugt, der sich bestechen lässt von avantgardistischen Projekten die auf dem  indischen Kulturerbe basieren, und in seinen Publikationen regelmäßig die Rechte der Frauen verteidigt.

Michel Defourny

Buchreferenz

Samhita Arni & Moyna Chitrar, Sita's Ramayana, Tara Books, Chennai, 2011

Buch aus dem Michel-Defourny-Fonds des Centre de littérature jeunesse et graphique.